LTB 137 – Sonette vom Libanon und andere Gedichte

Seit Beginn des Mittelalters schuf die christliche Kirche für ihre liturgischen Gesänge unsere wichtigsten Reimformen (gleichbleibend, alternierend, gekreuzt, umarmend) wie auch die Verseinteilung in vier, fünf, sechs, sieben, acht und zehn Silben, ganz zu schweigen von rhythmischen Verfahren in gewissen Prosen, deren verloren gegangene Regeln eine Art Geheimnis scheinen; damit brachte sie die französische Poesie zur Welt. Ein schreckliches Kind! Eine Tochter, die häufig ihre Mutter beleidigte und schlug. Ach! Und dennoch ist sie ihre Tochter, und die Kirche weiß es sehr wohl.


Manchmal kehrt dieses Kind übrigens zurück und wirft sich in die Arme ihrer sehr alten und immer jungen, da unsterblichen Mama, und die Kirche lächelt ihrer schlechten Tochter zu, denn sie ist ihr zu schön geraten, als dass man sie nicht lieben und ihr immer verzeihen müsste. Wenn sie zum Beispiel um Hilfe und Verzeihung bittet wie die Poesie von Verlaine oder wenn sie sich melodiös und edel und zärtlich und enthusiastisch präsentiert wie die Poesie von Germain Nouveau.

-Ernest Delahaye: Vorwort zu Poésies d‘ „Humilis“ (1924)

 

Können Verlagspreise die Buchkultur retten?

“Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister”

-Robert Schumann

 

Zurück vom Mondgebirge

Kein fester Punkt. Die Erde kreist, und von der Zeitverschiebung verwirrte Passagiere sind mit dabei, Pakete günstig gekaufter Zigaretten unterm Arm, und keiner erwartet sie.

Schau dir meine Schätze an, sagt Adrian zu dem Jungen, geh alle Stapel durch, Jacken und Halstücher, such dir aus, was du magst.

Indianer

Wie die anderen drei Teile ist auch dieser «Satzbau» geprägt vom Prinzip der Collage: Absicht und Zufall treffen aufeinander.

“Das Wort Indianer ist mittlerweile unerwünscht, wenn nicht verboten. Welche hohe Kommission oder Behörde dieses Verbot ausgesprochen hat, ist nicht herauszubekommen. Wie dem auch sei, dieses toxische Wort muß hier verwandt werden, denn es gehört zu einer Geschichte, die sich in einem Jahrhundert ereignete, das weniger empfindsam war als das gegenwärtige.”

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“ein bemerkenswerter Band mit der programmatischen verweigerung domestizierten erzählens: notizen, kleinstgeschichten, lyrische prosa, immer konzept, perspektive, tonalität, dramaturgie wechselnd, lakonisch und zwischendurch nahezu plaudernd, a-hierarchisch.”

-Autor Àxel Sanjosé über den Band “Indianer. Ein Satzbau IV”

Nofretete auf dem Streitwagen

Amarna oder Achetaton, der Horizont des Aton, wie die Stadt auf altägyptisch heißt, ist quasi das Pompeji Ägyptens. Die Stadt selbst wurde in nur wenigen Jahren erbaut und nur kurz bewohnt. Dadurch erscheinen die Funde und Befunde für uns heute wie ein Ausschnitt aus einem Augenblick im Alten Ägypten der 18. Dynastie. In vielerlei Hinsicht ist die Stadt selbst wie auch deren Bewohner aus der Zeit gefallen, sei es in Hinsicht auf die Religion, die sich in dieser Periode allein auf den Gott Aton beschränkte, als auch in Hinsicht auf die Kunst und die Stellung der Frau.
Der letztere Aspekt wird im vorliegenden Band anhand der Darstellungen von Frauen auf dem Streitwagen näher beleuchtet, dem damals neuesten und schnellsten Verkehrsmittel seiner Zeit. So ist Nofretete die erste Frau, die alleine einen Streitwagen führt.
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Dr. Heidi Köpp-Junk ist Ägyptologin und studierte Ägyptologie, Ur- und Frühgeschichte sowie Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie verfasste dort ihre Dissertation mit dem Thema „Reisen im AltenÄgypten“. Sie war an verschiedenen Universitäten und Museen tätig und arbeitete auf Grabungen in Deutschland und in Ägypten für verschiedene Institutionen wie das Deutsche Archäologische Institute Kairo mit zumeist eigenen Projekten. Sie veröffentlichte bisher über 100 wissenschaffliche Artikel und Bücher. Derzeit ist sie Assistant Professor in Egyptian Archaeology am Institute of Mediterranean and Oriental Cultures, Polish Academy of Sciences Warsaw und lehrt an der Georg-August-Universität in Göttingen.

Wolfgang Koeppen in Salt Lake City – Reinhard Kiefer und Christoph Leisten

Die Autoren Christoph Leisten und Reinhard Kiefer stellen ihr Buch “Wolfgang Koeppen in Salt Lake City” vor und führen ein Gespräch über den Schriftsteller Wolfgang Koeppen, die Hintergründe seiner Amerikafahrt, sowie über ihre eigenen, teilweise persönlichen Begegnungen mit Koeppen. Musikalisch untermalt Simon Ganser die Lesung mit ausgewählten Chansons.


Die Veranstaltung fand am 17.03.2023 in der Stadtbibliothek Aachen statt.

Arisierung und Wiedergutmachung

Die Bedeutung der jüdischen Tuchfabriken wurde in der Geschichte der Aachener Tuchindustrie nicht explizit thematisiert, was als Zeichen einer gelungenen Integration verstanden werden kann. Im Jahr 1938 setzte mit der Erfassung jüdischer Vermögen eine neue Phase der Diskriminierung ein, die mit dem Novemberpogrom einen brutalen Schritt zur Verfolgung und Vernichtung jüdischer Existenzen vollzog.
Eine Flucht konnte nur durch Arisierung und Zurücklassung des Vermögens erkauft werden. – Nach dem Krieg wurden die Verbrechen der NS-Zeit zwar öffentlich, aber der Kampf mit den Verwüstungen des Krieges war ein drängenderes Problem. Überlebende oder deren Angehörige glaubten ihr geraubtes Eigentum zurückfordern zu können, was durch das Wiedergutmachungsamt geregelt werden sollte. Doch man bestand darauf, dass es sich um ganz reguläre Verkäufe gehandelt habe und nicht von „Arisierung“ gesprochen werden dürfe.

Für ein mehr als nur oberflächliches Verständnis der Aachener Wirtschaftsgeschichte ist es wichtig, die Bedingungen des Wandels dieser von internationalen Beziehungen und Moden abhängigen Branche zu verstehen. Die bemerkenswerten Erfolge jüdischer Tuchgrossisten und Tuchfabriken und ihre fehlende Berücksichtigung in der Geschichte der Aachener Tuchindustrie sind ein blinder Fleck, der im vorliegenden Band mit Familien- und damit verbundenen Unternehmensgeschichten näher beleuchtet wird.

Erzählen in einer lustigeren Manier

Seit die romantisch-revolutionären Schriftsteller um 1800 und das damals neugegründete Universitätsfach Germanistik Grimmelshausen wiederentdeckten, von dem sie zunächst nicht einmal dessen wirklichen Namen, nur seine Pseudonyme kannten, haben ernstzunehmende deutschsprachige Schriftsteller, aber auch zahlreiche bildende Künstler dem simplicianischen Autor ihre Reverenz erwiesen. Gerühmt wird vor allem seine immer noch erstaunlich frische, saft- und kraftvolle, unverbrauchte, reiche Sprache. Hans Magnus Enzensberger vergleicht sie mit einer alten Münze, die unabgenutzt immer noch so glänzt, als wäre sie erst heute geprägt. Man könne kaum glauben, so schreibt er, dass sie „aufs Jahr genau so alt ist wie das Schloss von Versailles, so alt wie Racines Berenice und die Allonge-Perücke“. Man bewunderte aber auch Grimmelshausens Kunst der realistischen Darstellung, die Plastizität und Freiheit seiner Figuren, den ungezwungenen Umgang mit Stoffen und Formen der Tradition, seine diskrete, überkonfessionelle Christlichkeit.

Die vorliegenden zehn Studien über die Dichtungen Grimmelshausens sind in jahrzehntelanger Beschäftigung mit diesem faszinierenden Autor entstanden. Sie erscheinen erneut in der Hoffnung, Neugier auf den großen Dichter der Barockzeit zu wecken, der ohne Scheu zugab, dass er nicht zu den Gelehrten gehöre und für Leser aller Stände und Schichten schreibe.

RTB 116 – Spinnentempel

… hinaus in einen weißblühenden Frühling, ein 1972, in dem Tibor und ich durch ein wahres Meer von Obstbäumen auf den Spinnentempel zufahren, ich auf seinem Fahrrad, er auf meinem Velosolex, schwarz das eine, chromglänzend das andere – aus den Seitentüren des Spinnentempels heraus auf den Spinnentempel zu, im Traum ist das kein Paradox …

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“Friedrich Kröhnke hat in den letzten 25 Jahren ein ganz eigenes Idiom ausgebildet… ein Gespür für sprachliche Intensität und erzählerische Dramaturgie, wie es ganz selten ist.”


Tobias Lehmkuhl, Deutschlandradio

“Der einzige Einwand, der sich gegen dieses feine Buch erheben lässt: Es ist zu kurz.”


Hans Christoph Buch, FAZ am 13.06.2023

“Der Roman entwickelt in seiner Verdichtung einen eigenen Sound zwischen Velosolex-Knattern, dem Allegro con fuoco aus Dvoraks Neuen Welt, der Internationale und So long Marianne…”
Torsten Flüh, nightoutatberlin.de vom 20.07.2023

Härten der Schreibweise. Literarische Positionen französischer Homosexueller

In der relativen Deutlichkeit ist das ein Phänomen der Endsiebziger, getragen noch von der Schubkraft des neuen Aufbruchs: daß sich die Homosexuellen, was sie vorher, in den Phasen der Camouflage, nur ausnahmsweise über sich brachten, als solche offener in ihre Kulturproduktionen einbringen. Sie haben es weniger nötig, sich hinter die Maske großer, ‘genialer’ Künstlerschaft zu flüchten, um sich vernehmlich zu machen – sie riskieren es stattdessen von vorneherein, ihre Andersartigkeit zu bekennen und sie selbst ohne Umwege zum Gegenstand ihrer Kunst zu machen. Seit den Neuanfängen der Schwulenbewegung ist die Kunst der Homosexuellen nicht mehr die alte, eine abgehobene Sache für sich, Aufgestülptes wie alles andere, sondern sie ist in erster Linie – oder sollte so sein – Medium der Selbstreflexion, der Selbstklärung, des individuellen wie auch des kollektiven Zu-Sich-Kommens, in den eigenen Zusammenhängen wie in den Zusammenhängen der Bewegung.