LTB 018 – Opferholz

In den Abruzzen

Wer wandert auf baumlosen Bergen, /
über dem Abgrund des Meeres? /
Wer sitzt am Fluß /
im Tal der Zikaden /
und sieht, wie das Licht auf Gipfel /
strahlende Füße setzt? /
Die Berge rühren sich nicht. /
Still wachsen die Schatten der Steine. /
Der Saumpfad ist leer, ohne Schritt. /
Kein klirrendes Rad rührt den Staub.

Michael Guttenbrunner wurde 1919 in Althoven in Kärnten geboren. Er lebte seit 1954 in Wien, wo er 2004 starb. Seine präzise Arbeit am Text ist an Karl Kraus geschult. Mit seinem Werk ist er für die österreichische Literatur durchaus das, was Ludwig Hohl für die Schweiz bedeutet.

LTB 050 – Der Abstieg

Der Abstieg

Unter dir

immer wieder

ein tiefer

stehender Wirbel;

nie ein Fuß.

Michael Guttenbrunner wurde 1919 in Althoven in Kärnten geboren. Er lebte seit 1954 in Wien, wo er 2004 starb. Seine präzise Arbeit am Text ist an Karl Kraus geschult. Mit seinem Werk ist er für die österreichische Literatur durchaus das, was Ludwig Hohl für die Schweiz bedeutet.

LTB 057 – Die kleinen Raubtiere unter ihrem Pelz

Die Ausstattung unserer Körper machte /
diverse Nutzungsvarianten möglich. Wir gingen /
die Produktpalette der atmenden Stoffe durch, /
fanden Türme, Obelisken und andere Monumente /
der Architekturgeschichte. Sie galten als Verbündete /
unserer neuen Behausung und wir setzten Türen ein /
und ein Guckloch zum Meer. Die Verantwortung für /
die Fassadengestaltung gaben wir an das Licht ab, /
als wir uns über unsere Flächen erstreckten.

So hob sich das Licht aus dem Geklapper /
der Muscheln und legte sich auf unseren Flügeln ab. /
Wir schlugen die Augen auf, aber seine Quelle /
blieb unsichtbar, die Leere zwischen den Wänden /
sei etwas anderes als bei den Philosophen – /
dachten wir, Strandläufer daheim.

Claudia Gabler wurde 1970 in Lörrach geboren. Sie sturdierte Theaterwissenschaften und Publizistik in Berlin und veröffentlichte Lyrik, Hörspiele und Stücke. Des Weiteren Veröffentlichungen in Zeitschriften, Anthologien und beim Funk.

LTB 042 – Augen der Worte

hainichen

in dörfern lebte ich noch nicht nur /
nahe daran in ländlichen städten wo /
die pflasterstraßen ruhig unter /
den rädern lagen und über mittag leiser /
gesprochen wurde wo ich täglich /
meine spuren ertappte und zeit /
sich fast unbeholfen über die tage /
dehnte heut scheint es stiller geworden /
im verhaltenen lärm gelegentlich /
quetschen sich träge tauben unter /
rotierende reifen unbemerkt wechseln /
stunden ihre bedeutung die schritte /
schwärmen weniger zu schmal ist /
die stadt für versteckte kinder gehn /
allmählich aus

“Andreas Altmann hält die teilnahmslose Natur, die Dunkelheit, die Abschiede fest, und will doch die Aufhebung des Trennenden, die Mischung – und findet dafür magische Bilder.”

Joachim Sartorius

LTB 122 – Schlafende Sonnen

Mein Fleisch ist ein Gitter auf roten Füßen

Es hindert nicht den luftigsten Schritt

Wie aus einem Fenster

Aber du fällst in keinen Schoß zurück

Auch hört man keinen Aufprall auf dem Trottoir

Du hast dein Gewicht verloren du schwebst auf dem Rücken

Du verwest schwebend in einem ausgeräumten Frisiersalon

Ein Spiegel deckt dich zu von dem sich das Zinn schält

Zwischen Hobelspänen quellen blaue Locken hervor

Efeu schlingt sich an der Wand um Raub-Augen

Andre blicken pupillenlos aus Flaschen

Man sieht sie denken schon lange nicht mehr.

Die Wüste des Solitärs füllt nur einen Sarg

Aber aufgestiegen an die Oberfläche

Könnte ich die Hand durch den geliebten

Körper strecken der ganz aus Perlen ist

Ein Paar aus vier Menschenhälften

Istanbul ist der Ort einer Liebe, eines tödlichen Verbrechens. Hier lebt ein verheiratetes Paar auf unsicherem Grund, die Stadt selbst ist höchst erdbebengefährdet. Die Stadt und das Meer werden zum großen Sinnbild, als wäre der Schoß der Erde das Ziel der Geliebten. Der Mord des Mannes an seiner Frau führt die Triebhaftigkeit wie Schamlosigkeit einer Gesellschaft wie ihrer Justiz in all ihrer Gewalt und Schönheit vor, als wäre die Natur eine wahnsinnige Welt.

Der zuständige Richter wird den Ehemann freisprechen. Eine innere Wirklichkeit schiebt sich zwischen die äußere Wirklichkeit und das Handeln. Der Gegensatz zwischen Wasser und Stadt, Meerenge und Landzunge prägt nicht nur den Charakter der Stadt Istanbul, sondern auch ihrer Einwohner, als wäre der Mensch nichts anderes als ein Element: Feuer, Erde, Wasser, Luft.

Auf dem Grund des Bosporus findet die Ermordete keine Ruhe. Sie wird zu einem Geist, der das Unrecht weiter miterlebt. Niemand weiß, welches Wort das eine ergab, das zur Tat führte.

RTB 092 – Briefe an Alfred Margul-Sperber

Moses Rosenkranz stand, wie Alfred Kittner prägnant sagte, «in länger oder kürzer währenden Freundschaftsbeziehungen zu Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner, Oskar Walter Cisek, Immanuel Weissglas, Ion Pillat, Vasile Voiculescu, Harald Krasser, Wolf Aichelburg, Hermann Roth. Alle, die sein Werk und seine Persönlichkeit kannten, haben seiner Dichtung eine überragende Bedeutung beigemessen.» Als am längsten und am dauerhaftesten, auch wenn nicht völlig reibungslos, erwies sich das freundschaftliche und schriftstellerische Verhältnis zwischen Margul-Sperber und Rosenkranz.

Im Bukarester Sperber-Nachlass befinden sich im Muzeul Național al Literaturii Române zahlreiche Briefe und Postkarten, die Rosenkranz seinem Freund, «Margul, dem Riesen», geschickt hat. Das Persönliche wurde sehr oft von existenziell-dichterischen Freuden und Nöten weitgehend zurückgedrängt. Nicht immer ist das Verhältnis, wie gesagt, harmonisch gewesen, manchmal führten Dissonanzen bis zu seinem totalen Abbruch, bis zur «Kriegserklärung». Doch das dominierende Gefühl ist letztendlich jenes, dass man einen Freund hat, dem man sich anvertrauen kann, der mit der Zeit für die eigene lyrische Produktion fast unerlässlich wurde: man brauchte seine Anregungen, seine Kritik, sein Lob.

George Guțu

George Guțu, geboren 1944 in Galatz/Galați, Rumänien, studierte Germanistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und wirkt weiterhin als nun emeritierter Germanistikprofessor und als Übersetzer an der Universität Bukarest.

 

 

 

Verlagsübernahme – Wie die Linien meiner Hand

6″Könnte man doch hinter die Jahre schauen und wissen, was kommt!”

Jene Stimmung erwacht wieder, wenn ich mich heute der Stunde erinnere, als ich den Satz und den Wunsch hinschrieb im Manuskript meines ersten Romans … Fünfundvierzig Jahre später schaue ich nun auf die Zukunft, die ich voraus zu sehen wünschte, zurück. Sie hat sich vollzogen. Ich überblicke ihren Verlauf und wage zu sagen: Ich habe ihn bestimmt durch mein Wesen, das mir mitgegeben war wie die Linien meiner Hand.

Hans Bender

Verlagsübernahme – Einer von ihnen

Als im Jahr 1987 Bruderherz vorlag, war das sozusagen der späte Abschied von der Kurzgeschichte oder Geschichte, wie Hans Bender lieber sagte. Er hatte sich längst, seit 1970, einer anderen literarischen Form zugewandt: der Aufzeichnung. In einem Interview definierte er sie: „Eine Aufzeichnung soll die Konzentration eines Gedichtes erzielen, ohne dessen Stilgebärde, dessen Angestrengtheit oder gar dessen Schmuck. Die eigene Stimme soll aus der Aufzeichnung sprechen, die Erfahrung, der Gedanke, die Einsicht.“ 1971 waren im Literarischen Colloquium Aufzeichnungen einiger Tage erschienen, ein schmales Heft, das 1979 in Einer von ihnen aufgenommen wurde, der ersten Sammlung mit den Aufzeichnungen der Jahre 1970 bis 1979. Obwohl er gerne Tagebücher las – Julien Green, Jules Renard, Albert Camus gehörten zu seinen Favoriten – hatte er sich gegen tägliche Notizen entschieden. Es gab nur eine Ausnahme, die er in einer Nachbemerkung am Ende des Buches erklärt: „Die Seiten unter dem Titel ‚Einunddreißig Tage‘ erschienen in einem Sammelband Kölner Autoren (Notizbuch. Neun Autoren Wohnsitz Köln, 1972). Einen Monat lang sollte Tagebuch geführt werden.“ Und dann steht da noch in dieser Nachbemerkung: „Der Leser folgt den Aufzeichnungen von der Gegenwart zurückgehend in die Vergangenheit.“ [Weiterlesen]

Hans Georg Schwark

Verlagsübernahme – Bruderherz

Gab es im Leben Herthas, überlegte ich, früher so etwas wie ein Liebeserlebnis? Nur eines fiel mir ein, das traurig ausging. In unserem Dorf hatte sie einen jungen Mann kennengelernt; einen Mechaniker, der in einer Autowerkstatt arbeitete. Wilhelm hieß er. Ein netter, aufgeweckter Junge mit rehbraunen Augen. Er gefiel ihr, und Wilhelm bewunderte Hertha, das Mädchen aus der Stadt. Als sie wieder daheim war, kam er auf seinem Motorrad angebraust und stand erwartungsvoll, in einer Lederjacke mit Reißverschlüssen, vor der Tür. So sehr Hertha sich freute, so verwirrt war ihre Mutter. Sie trug Kaffee und Linzer Torte auf. Hinterher nahm sie Wilhelm mit in die Küche und erklärte ihm in wahrscheinlich schwer verständlichen Umschreibungen, es hätte keinen Zweck, mit ihrer Tochter ein Verhältnis anzufangen.
Der verstörte Wilhelm ließ nie mehr von sich hören.