RTB 020/021 – Wer schenkt was wem

Olga Martynova, russische Lyrikerin, lebt seit 1991 in Frankfurt am Main und schreibt wumderbare Gedichte in ihrer Muttersprache, die sie zusammen mit Elke Erb für den Rimbaud Verlag ins Deutsche überträgt. Parallel dazu verfasst sie auf Deutsch brilliante Buchkritiken und Essays, welche bei den angesehensten Publikationen deutschsprachigen Raums Abnahme finden. Das Buch “Wer schenkt was wem” ist eine repräsentative Auswahl aus diesen Aufsätzen, die – für den ersten Blick unerwartet – nicht ausschließlich Übersetzungen aus dem Russischen oder aus den verwandten  slawischen Sprachen behandeln. Mit der gleichen Souveränität und Begeisterung schreibt Olga Martynova über alte und neue Dichter deutscher Zunge.

Das selbstverständlich zu nennen, wäre eine Missachtung der Realität, die der überwiegenden Mehrzahl der sich in einem fremden Sprachraum aufhaltenden Autoren bekanntlich nur eine Wahl lässt: entweder Anpassung, Aufgabe eigener Sprache und Kultur, oder Abschirmung, Selbstghettoisierung, ungesunde Trennung des physischen und geistigen Daseins.

Olga Martynovas Leben in zwei Sprachen, in zwei Literaturbetrieben, aber in einer nicht gespaltenen, sondern an Dimensionen bereicherten, stereoskopischen Kulturidentität nennen wir angesichts der erdrückenden Realität lieber eine selbstverständliche Ausnahme.

Ein Gesang über allen Gesängen

Mein Elend ist aufgezeichnet bei dir. Sammle meine Tränen in einem Krug, zeichne sie auf in deinem Buch.

Ps. 56,9

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In seinen hier erstmals ins Deutsche übertragenen Erzählungen und Novellen können wir nicht nur die Stationen Josef Burgs eigenen Lebens, sondern auch das Geschick seiner Heimat, der Bukowina, während der letzten siebzig, achtzig Jahre mitverfolgen. Mit lyrischem Einfühlungsvermögen beschreibt er Natur und Menschen – ein poetisches Sichvergegenwärtigen, das sich beim Gedenken an die Vernichtung zu eindringlichem Pathos steigert. Die Ermordung von sechs Millionen Juden während der Herrschaft des deutschen Faschismus bleibt das Trauma seines Lebens und Schaffens wie wohl jedes Angehörigen dieses leidgeprüften Volkes. Alles Spätere wird noch erlebt wie unterm Schatten des Todes.

Maghrebinische Geschichten

Auf der Rückseite eines Manuskriptes fand der Verlagslektor handgeschriebene Vorlagen für Stegreifgeschichten, die der Autor als Rundfunkredakteur im Nachtprogramm erzählt hatte: “Was da auf den Manuskripten steht, ist ja schön und gut. Aber das andere – das auf den mit Bleistift beschriebenen Rückseiten – warum machst du nicht daraus ein Buch?” Gegen Ende seines Lebens beklagt sich Rezzori: “Es ist nicht selten, dass der Name eines Autors an einem einzigen seiner Bücher kleben bleibt. Meiner klebt an den Maghrebinischen Geschichten.”

Unbestritten wird in diesem Buch nach 1945 zum ersten Mal “vollkommen unbefangen das Wort Jude” verwendet. Rabbinergeschichten und Rabbinerwitze, Anekdoten, östliche Volksweisheiten werden mit Eulenspiegeleien verbunden: “Ich knetete das zusammen zur Berichterstattung aus einem imaginären Land, in welchem unsere abendländische Welt sich zu einem schlitzohrigen Orient spiegelt.” “Das große ruhmreiche Maghrebinien” findet sich auf keiner Landkarte, denn es ist pure Phantasie. In welchem Land regierte das “Königshaus Karakriminalowitsch”, steht die “Kathedrale Hagia Sophistia”, wird ein “byzantinisches Raketengeschütz versteckt gehalten”?

LTB 127 – Ferner Berge blauer Glanz

Ferner Berge blauer Glanz

Ferner Berge blauer Glanz,


silberblanker Sonnenschein,


brauner Wälder schlanker Kranz,


schließen mich in Wunder ein.

Meine Seele gleicht dem Wind,


gleicht der Wolken Flug und Spiel:


jene blauen Berge sind


ewig ihres Weges Ziel

LTB 126 – Das Haarpfand

Voller Mond

Ein ungeheurer Mond


steht jäh auf unsrer Straße:


die Nacht verfällt zum Fraße


dem Tier, das auf uns thront.

Sein Licht fällt dicht und schont


die Dinge, wäscht sie weicher,


mit Milch und Silber bleicher.


Wir gehen mild auf Mond.

Die Mädchen wollen nicht


ins Haus hinein, sie stehen


gespannt auf ihren Zehen


noch lang und bang im Licht

und kämmen ihre langen


Haarlocken voll Verlangen.

LTB 125 – Unterwegs

Genesung

Ich hab an deinem Bett gewacht


Wohl eine lange, stille Nacht.

Auf deinem Atemzug gelauscht


Hab ich, von tiefem Schmerz berauscht.

Vom Tische her schien trüb das Licht.


War’s Mitternacht? Ich weiss es nicht.

Dein Stöhnen klang im Herz mir nach


Als wenn ein teures Glas zerbrach.

Erst spät den tiefen Schlaf ich fand.


Am Himmel letzter Stern verschwand.

Als ich am hellen Tag erwacht,


Hat Sonne mir ins Bett gelacht.

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Aus dem Nachwort:


Lebensumstände und Daten zur Biographie des Lyrikers Pitsch sind kaum bekannt. Was man weiß; Johann Pitsch wurde 1901 in Brody (Galizien) geboren, kam im Alter von sechs Jahren nach Czernowitz, studierte hier nach beendetem Schulbesuch, um danach in Wien und Brünn sein Studium fortzusetzen. Wieder in Czernowitz betätigte er sich als Journalist, gab die Zeitschrift “Wandlungen” heraus, die allerdings bereits nach zwei Ausgaben eingestellt wurde und litt zunehmend an einer unheilbaren Schüttellähmung, die ihn schon während seiner Studienzeit befallen hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach den Abschluss seines Studiums verhinderte. Es war ein Leiden aus dem Umkreis der Parkinsonschen Erkrankungen, an dem er schließlich Ende Februar 1940 in Czernowitz starb.

LTB 114 – Der Kranz auf das Grab einer Landschaft

DER KRANZ (Auszug aus dem Gedicht)

An deinem Grab


eingesenkt meiner Seele,


Heimat, stehe ich nun,


neigend die Träne


deinem Gedächtnis.

Als ich dich ließ,


ließ dich mein Fuß.


Als ich dich mied,


mied dich mein Blick.


Als ich enteilt,


eilte mein Ohr ewigem Wort nach,

das mich lehrte


die Sprache.

Aber das Herz…


Aber das Herz, pocht es nicht so


wie des Spechtes Pochen im Buchwald


die Stille zerkleinernd?


Ruhloses Herz,


schäumt nicht dein Blut in den Bächen,

 

die über Felsbruch gratherniedergerollt?


Rauscht es nicht wie der Wälder


wiegender Laublaut

und wie Gelisp


goldgewichtiger Ähren?

[…]

LTB 024 – Leibhaftig

Lüge ich wenn ich /
sage ich habe /
mit ihr nicht /
geschlafen /

oder hätte ich /
gelogen /
wenn ich nicht /
mit ihr /
geschlafen hätte /

oder log ich /
als ich mit ihr /
schlief

LTB 049 – zeit aus der karte

IM SPIEL die bewegung von klappen /
und tasten /
zunächst: luftstrom und anschlag /
dann die leerstelle zwischen erregung und klang /

in erwartung des tons /
nähen die blicke den musiker /
ans instrument: finger /
und mund im spiel /

mit dem Körper

Christoph Wenzel, 1979 in Hamm/ Westfalen geboren. Er studierte Literatur- und Sprachwissenschaften, erhielt verschiedene Nachwuchs- und Förderpreise, veröffentlichte in Literaturzeitschriften und Anthologien und gab die Literaturzeitschrift (SIC) mit heraus.

LTB 075 – Die unsichtbare Zeit

Morgengebet eines Poeten

Herr mein Gott, mache, daß ich den Wächtern /
entkomme, ohne deren Wissen ich heut Nacht /
die mit schwarzen Tüchern verhängten Nischen /
im Gemäuer der Infanterie-Kaserne (die /
Schaufenster der Schatten) und das schöne /
Tor zum Phönix-Park mit Vögeln behängt habe, /
deren Lockruf das Schweigen in den fernen Wäldern /
aufhorchen läßt und die Reihen der Jäger lichtet, /
der Reiter, deren Hellebarden schon Feuer fangen /
und denen das Wild im dürren Holz prasselnd /
durch die Lappen geht.

Christian Saalberg, geboren 1926 in Hirschberg, starb im Mai 2006 in Kronshagen bei Kiel. Das Pseudonym Saalberg leitet sich von dem gleichnamigen Ort (dem heutigen Zachelmie) im Riesengebirge her. Im bürgerlichen Leben war Christian Saalberg Rechtsanwalt und Notar. Er veröffentlichte zahlreich in namhaften Zeitschriften. Von 1963 an veröffentlichte er 23 Gedichtbände, zuletzt 2005 Offenes Gewässer. 1988 erhielt er den Lenau-Preis, 1990 die Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis, 1992 den Eichendorff- Preis und 1998 wurde Saalberg der Lyrikpreis der Künstlergilde Esslingen verliehen.