(1899, Nantes – 1959)
Über Benjamin Péret:
«Benjamin Péret war für mich der surrealistische Dichter par excellence: die totale Freiheit reiner Inspiration, die ohne jedes kulturelle Bestreben direkt aus der Quelle fließt …»
Benjamin Péret, im Juli 1899 in der Nähe von Nantes geboren, schloß sich 1920 den Pariser Dadaisten an und war 1924 Gründungsmitglied der Pariser Surrealistengruppe, der er bis zu seinem Tod angehörte und in der er von Beginn an, als Dichter wie als politischer Aktivist, eine herausragende Rolle spielte. 1927 trat er in die Kommunistische Partei ein und war fortan Poet und Revolutionär zugleich, letzteres in vehementer (trotzkistischer) Opposition gegen den Stalinismus, den die Pariser Surrealisten von 1935 an offen bekämpften. Trotz dieser doppelten Aktivität lehnte er jede Vermischung von Dichtung und politischem Kampf im Sinne von Gelegenheitspoesie oder «engagierter» Literatur entschieden ab, wenngleich er mit dem Band Je ne mange pas de ce pain-là (Ich esse nicht von diesem Brot, 1936) letztlich wohl selber etwas derartiges publiziert hat. 1929 ging Péret, nachdem er eine farbige brasilianische Sängerin geheiratet hatte, nach Rio de Janeiro, wurde aber bereits 1931 wegen subversiver politischer Aktivitäten des Landes verwiesen. Er erwarb sich in dieser Zeit profunde Kenntnisse der afroamerikanischen Kultur in Brasilien. 1936–37 kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg auf linkskommunistischer und anarchistischer Seite. 1940 verurteilte man ihn wegen der Bildung einer trotzkistischen Zelle in der französischen Armee zu einer Kerkerhaft. Es gelang ihm jedoch, nach Paris und später nach Marseille zu fliehen, von wo er 1941 per Schiff über Casablanca ins rettende mexikanische Exil entkam, das fünf Jahre dauern sollte. In Mexiko setzte Péret seine politische Tätigkeit (zeitweise in Kontakt zu Leo Trotzkis Witwe Natalia Sedova) fort und beschäftigte sich zudem intensiv mit den Indianerkulturen Mesoamerikas. Das Ergebnis solcher Forscher- und Sammlertätigkeit ist die 1960 posthum erschienene Anthologie des mythes, légendes et contes populaires d’Amérique, in der Texte der amerikanischen Ureinwohner von Alaska bis Patagonien sowie solche der schwarzen Bevölkerung verschiedener Länder vereinigt sind. Ende 1947 kehrte Péret nach einer Spendenaktion von Freunden, durch die er sich die Schiffspassage leisten konnte, nach Paris und in die neuformierte Surrealistengruppe um André Breton zurück. 1955–56 reiste er in das Amazonasgebiet, um sich erneut mit der Indianerwelt, diesmal derjenigen Brasiliens, auseinanderzusetzen. Sein Leben lang arm oder gar mittellos, starb Péret im September 1959 im Alter von sechzig Jahren, nach Ansicht seiner Weggefährten einer der größten Dichter des Surrealismus. Er ist aber zugleich auch ein verkannter Dichter, beinahe ein poète maudit, und dies wohl in der Hauptsache deshalb, weil er sich so weit wie kaum ein anderer westlicher Autor von dem entfernt hat, was wir gewöhnlich unter Literatur verstehen. Sein Freund Octavio Paz nennt sein Werk eines der «wildesten unserer Epoche». Tatsächlich ist Pérets dichterische Affinität zum Denken und Empfinden der «Wilden», d. h. der archaischen Völker, für die er sich so leidenschaftlich interessierte, in seinen poetischen Texten, zu denen eine große Zahl von surrealen Erzählungen gehört, überall greifbar. Mit seiner assoziativen, häufig wohl automatischen oder halbautomatischen, jedenfalls aber nie vom rationalen Denken bestimmten Art des Schreibens läßt Péret eine Welt entstehen, in der die für den Zivilisationsmenschen gültigen Gesetze, etwa das der Kausalität oder das der Schwerkraft, keine Rolle spielen und die in vielerlei Hinsicht an die Welt der sog. Traumzeit erinnert, die in der Vorstellung vieler «Primitiver» vor und neben der realen Zeit existiert. Diese Traumzeit-Welt ist ein «Ort der Metamorphosen und Wunder», wie der Soziologe Roger Caillois feststellt. «In ihr war noch nichts stabilisiert, noch keine Regel erlassen, noch keine Form festgelegt. Was seither unmöglich geworden ist, war damals machbar: Die Gegenstände bewegten sich von selbst, die Boote flogen durch die Luft, die Menschen verwandelten sich in Tiere und umgekehrt.» Eben dies geschieht, selten ohne mehr oder minder starke Dosen Humor, in Pérets anarchischer Welt des Wunderbaren, in der es weder Trennwände zwischen Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt noch irgendwelche Hierarchien, etwa zwischen einer schönen Frau und einem Fliegenbein, zwischen einer Bratpfanne und einem Sternennebel, gibt. Hier ist die Wirklichkeit tatsächlich wieder wild geworden dank einer völlig entfesselten Imagination, die bewirkt, daß das Gedicht letztlich nicht vom Dichter, sondern von der Sprache selbst geschrieben wird.